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Titel
Capitalism. The Story behind the Word


Autor(en)
Sonenscher, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
$ 27.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Leo Grob, Historisches Institut, Universität Bern

Woher stammt der Begriff „Kapitalismus“? Wer prägte ihn und wie verhielt er sich zu älteren Wortschöpfungen wie „Kapitalist“ oder „Kapital“? Michael Sonenscher, Emeritus am King’s College Cambridge, geht diesen Fragen in seinem Essay „Capitalism. The Story behind the Word“ nach. Aus einer ideengeschichtlichen Perspektive beleuchtet der Autor Debatten des 18. und 19. Jahrhunderts, um die heterogenen Elemente zu rekonstruieren, die etwa ab 1850 im Begriff des „Kapitalismus“ zusammenflossen und seither, wie er beklagt, kaum mehr unterschieden werden.

Woher kamen die Ingredienzien und wie und wieso verschmolzen sie im Sammelbegriff „Kapitalismus“? Sonenschers Erkenntnisinteresse richtet sich insbesondere auf den Begriff der „kommerziellen Gesellschaft“, den der schottische Philosoph Adam Smith geprägt hatte. Smith verstand darunter eine arbeitsteilig organisierte Gesellschaft, deren Mitglieder für die eigene Subsistenz auf Tausch und Märkte angewiesen waren. Mit Blick auf eine Zeit, in der „Kapital“ und „Arbeitsteilung“ konzeptuell klarer getrennt waren, will Sonenscher verschüttete Formen des Denkens ausgraben, die Antworten auf das Problem der arbeitsteiligen Gesellschaft versprechen. Die damit einhergehende Verschiebung der Problemstellung weg von „Kapitalismus“ hin zu „Arbeitsteilung“ begründet er damit, dass es zwar vieldebattierte Vorschläge gab, wie eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus aussehen könnte, eine Alternative zur Arbeitsteilung hingegen schwer vorstellbar gewesen sei.

Sonenschers Essay ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil behandelt er die begriffliche Metamorphose der „kommerziellen Gesellschaft“ zum „Kapitalismus“ anhand von Diskussionen um die Begriffe „Kapital“, „Kapitalismus“ und „Arbeitsteilung“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Wort „capitalisme“ breitete sich in den 1830er-Jahren aus – zeitlich und inhaltlich verknüpft mit der Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit. Insbesondere nach der Julirevolution von 1830 formierte sich das Argument, dass der Kapitalismus und die damit einhergehenden Ungleichheiten – zwischen Armen und Reichen, Besitzenden und Besitzlosen, Herrschenden und Beherrschten, Kolonisierten und Kolonisatoren – im Widerspruch zur modernen, negativen Freiheitskonzeption stünden. „Capitalisme“ war dabei ein Echo auf das französische „capitaliste“, mit dem ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Personen bezeichnet wurden, welche die Kriegskasse der französischen Krone mit Kapital ausstatteten. In dieser frühen Verwendung, wie Sonenscher am Beispiel des französischen Journalisten Emile Morice zeigt, war „Kapitalismus“ semantisch eng mit Staatsschuld verknüpft. Während der Begriff in den 1830er-Jahren bei Royalisten der französischen Rechten gängig war, wanderte das Wort in den 1840er-Jahren in die Debatten der französischen Linken. Sonenscher geht hier auf eine Debatte zwischen Louis Blanc, Alphonse de Lamartine und anderen ein, in der Kapital (als gebündelter Reichtum, der Investitionen ermöglicht) von Kapitalismus unterschieden wurde. Während Kapital für Blanc eine wichtige Voraussetzung für ökonomische Entwicklung war, meinte „Kapitalismus“ die private Aneignung von Kapital. Indem also Kapital vergesellschaftet bzw. verstaatlich würde, konnte Kapital nach Blanc für eine am Gemeinwohl orientierte Produktion eingesetzt werden – Kapital als Antidot zum Kapitalismus. Sonenscher stellt mit Blick auf das Wort „Kapitalismus“ fest, dass die öffentliche Verschuldung bis in die 1840er-Jahre in der Regel als die andere Seite des Krieges betrachtet wurde. Mit Blanc hingegen wurde die öffentliche Verschuldung zur anderen Seite der Wohlfahrt. Sonenscher betont nun, dass mit Blancs Idee der Zentralisierung von Kapital in den Händen des Staates zwar Lösungen für die soziale Frage formuliert worden waren, das Problem der Arbeitsteilung hingegen anders geartet und durch eine Zentralisierung nicht zu lösen war.

Im zweiten Teil des Essays widmet sich Sonenscher den politischen Antworten auf das Problem der „kommerziellen Gesellschaft“ und der Arbeitsteilung. Der Autor geht zuerst auf eine der prominentesten Antworten auf die Probleme marktvermittelter Gesellschaften ein: den Kommunismus. Für Karl Marx stellte die Arbeitsteilung, so Sonenscher, weniger ein Problem als ein ungeheuerliches Potential dar, um durch kollektive Praxis eine kommunistische Gesellschaft zu schaffen, eine „negative Gemeinschaft“, die durch die Abwesenheit von Eigentum und durch Bedarfsorientierung charakterisiert sei. In Sonenschers Erzählung ist Marx aber nur ein flüchtiger Auftritt gegönnt, denn der Autor interessiert sich viel mehr für die verschiedenen Positionen, die sich auf das sogenannte Adam-Smith-Problem bezogen, also die Diskrepanz zwischen seinen moralphilosophischen Überlegungen in „Theory of Moral Sentiments“ und der Betonung von Eigeninteresse als leitendes Prinzip der „kommerziellen Gesellschaft“ in „The Wealth of Nations“. In den restlichen Kapiteln geht der Autor denn auch auf die vermittelnde Stellung staatlicher Verwaltung zwischen Staat und Markt beim Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel und auf David Ricardos Theorie der komparativen Vorteile als zwei Antworten auf das Adam-Smith-Problem ein. Als dritte Antwort zeichnet er die Überlegungen des politischen Denkers Lorenz von Stein zur Versöhnung von Staat und Zivilgesellschaft mittels Staatsverschuldung nach.

Es gelingt dem Autor, die verschiedenen Elemente und Kritiken zu entwirren, die – keineswegs grundlos, möchte man meinen – im Kapitalismusbegriff zusammenkamen. Es bleibt allerdings unklar, auf welcher Basis Sonenscher seine Quellen auswählt. Das könnte man dahingehend deuten, dass es ihm bei der Auswahl und Anordnung der rezipierten Autoren vor allem um das eigene Argument ging. So liesse sich nachfragen, wieso Sonenescher beispielsweise dem Ideenstrang nicht nachgeht, dessen Anfang man bei Charles Fourier setzen könnte. In „Le nouveau monde industriel et sociétaire“ (1829) skizzierte der Frühsozialist Fourier eine kommunitaristische Gemeinschaft, in der ein System der job rotation den Arbeitstag in verschiedene, kurze Arbeitseinsätze unterteilen sollte. Diesen utopischen Gedanken griff Mitte der 1840er-Jahre auch der junge Karl Marx auf. Er imaginierte, dass es in der kommunistischen Gesellschaft möglich sein werde, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je ein Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker zu werden“.1

Offen bleibt auch, wieso Sonenscher bei seiner Diskussion der Marx’schen Positionen zur Frage der Arbeitsteilung auf halbem Wege stehen bleibt. Marx’ Überlegungen hätten nämlich einen spannenden Kontrast zur Ausgangsthese des Autors generiert, dass die begriffliche Trennung von „Kapitalismus“ und „kommerzieller Gesellschaft“ einen analytischen Gewinn für die Frage der Arbeitsteilung verspricht. Für Marx war nämlich die Vergesellschaftung von Kapital erst die Voraussetzung, um die Bedeutung der gesellschaftliche Arbeitsteilung zu minimieren – zum einen, weil in der kommunistischen Gesellschaft der „Gegensatz zwischen geistiger und körperlicher Arbeit“2 und die hierarchische Arbeitsteilung im Produktionsprozess3 überflüssig werde, zum anderen, indem die Arbeitszeit radikal verkürzt, die zur individuellen Entfaltung frei verfügbare Zeit hingegen maximal gesteigert werde.4

Was Sonenscher durch seine Quellenauswahl ebenfalls gänzlich umschifft – und dies, obschon er die materialistische Feministin Silvia Federici zitiert –, ist die Frage der geschlechtlichen Arbeitsteilung zwischen bezahlten und unbezahlten Tätigkeiten. Es bleiben also mehrere Gedankenstränge unbeleuchtet, die für die Fragestellung des Autors von grossem Interesse gewesen wären. Nichtsdestotrotz gelingt es dem Autor gekonnt, die verschiedenen Pfade zu differenzieren, die im Begriff des „Kapitalismus“ mündeten.

Anmerkungen:
1 Karl Marx / Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie (Marx-Engels-Werke 3), Berlin 1962, S. 33.
2 Karl Marx / Friedrich Engels, Kritik des Gothaer Programms (Marx-Engels-Werke 19), Berlin 1962, S. 21.
3 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Marx-Engels-Werke 42), Berlin 2015, S. 489.
4 Siehe z.B. Karl Marx, Instructions for the Delegates of the Provisional General Council [1866], https://www.marxists.org/archive/marx/works/1866/08/instructions.htm (18.08.2023), oder Marx, Grundrisse, S. 601.

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